crime fiction VI: Arab Jazz oder Arabischer Jazz

Crime fiction lebt auf dem Buchmarkt und in der Filmbranche auch von der Serialisierung. Wobei diese bereits die Grenzen einer vermeintlich unerschöpflich numerischen Fortsetzbarkeit erkannt haben. Serien über Ermittler werden mittlerweile bewußt eingestellt, um neue Täter, neue Opfer oder neue settings auf den Weg zu bringen. Offenbar geht der Wandel der fiktiven Krimi-Welt mit einer Dynamik voran, die es notwendig macht, eingefahrene Muster hinter sich zu lassen und neue ans Licht zu bringen.

Während über den Zenit ihres Innovations- und Spannungsbogens hinaus manche crime-Folgen am Leben erhalten werden, bleiben andere Krimis dagegen reine Einzelgänger. Von diesen wünscht sich der Leser dann, aus Gewohnheit oder Neugierde, zumindest einen zweiten Fall. So ist es mit dem Duo Jean Hamelot und Rachel Kupferstein, das in dem einzigen klassischen Krimi von Karim Miské den Mord an einer Stewardess aufklärt. Unterstützt werden die beiden von ihrem Vorgesetzten, der sich bislang in seinem Amt von internen Machenschaften fern hält. Auch von dem Nachbarn des Opfers, Ahmed Tarondout, werden sie unterstützt. Ihnen wird im Grunde von dem gesamten, keineswegs verwahrlosten Pariser Viertel geholfen, in dem der Mord geschah und das sich als europäischer melting pot darstellt.

An wenigen Stellen schweift der Krimi nach Brooklyn, New York, in die französische Provinz, kurz vor die Atlantikküste, oder in die Vergangenheit von Wilna, der “größten jüdischen Hauptstadt Europas”, vor dem Krieg. Weitgehend aber hält er sich nordwestlich der Seine auf, etwas abseits der chiquen und touristischen Teile der Stadt. Spannend ist dabei nun, dass in diesem Viertel nicht nur alle Figuren eine verschiedene Herkunft haben, sondern zusätzlich eine sich daran anschließende eigene Geschichte, die sie mit anderen verbindet, mit Freundinnen, mit ultrareligösen Jungs oder Psychoanalytikern. Beim Friseur des Viertels sind alle gleich, regelmäßig der Schere von Sam ausgesetzt.

Die Redeweise von … zwischen … irgendwas … Welten, Kulturen oder Religionen greift in diesem dargestellten Viertel nun überhaupt nicht, weder für die askenasische Jüdin Kupferstein noch den französischen Muslim Tarandout noch den bretonischen Katholiken Hamelot. Jeder von ihnen kann und versteht letztlich verschiedene Dinge, aus verschiedenen Milieus, aus verschiedenen Erfahrungen und Zeiten, und das gleichzeitig und anhaltend. Das sind: arabische Satz-Fetzen aus den Briefen des Cousins, die Natur der Menstruation von Frauen, die Zuordnung von Markenturnschuhen auf den ersten Blick, Dope, die Kenntnis von Orchideen als lebende Wesen oder das notwendige Mißtrauen gegenüber Essen, das nicht den Vorschriften entspricht (Gummibärchen mit Haluf-Gelatine).

Nicht nur die Ermittler, auch die Verdächtigen, Täter und Opfer zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Regeln ihrer Kaste, die von Familien-, Sekten- oder Religionsgründern vorausbestimmt wurden, nicht ihr ganzes Leben lang gehorchen, so dass der Leser auf “pummelige Rasta-Juden”, auf “psychotische Salafisten” und einen “mit dem Gesetz in Konflikt geratener Chassiden” trifft, die Zeugen Jehovas sind dabei, eine evangelikale Kirche ist im Quartier, Prediger aller Art, auch “Sektenhasser”, “Schwulenhassen”, Mystiker und gläubige Männer, die auf Männer stehen. Und bei aller Colorierung und Differenzierung der Glaubens- und Lebensmissionen blickt der Leser am Ende nur noch durch, indem er die, “die ins königliche Himmelreich kommen” und left behind zu unterscheiden versteht.

Für einen Krimi, der qua Genre strengen Schemata ausgesetzt ist, ist diese gesamte Ansammlung unkonformer Figuren in einem unkonformen Viertel ungewöhnlich. Hier mag ein erster Grund dafür liegen, dass Miskés Kriminalroman keine Fortsetzung hat. Eine solche Dichte komplexer Gestalten ist kaum wiederholbar. Und bestimmt nicht in dem hoch realistischen Stil des Autors. Erst in der Mitte ungefähr versteht man einen weiteren Grund für den einzelgängerischen Charakter. Es handelt sich bei dem französischen Original Arab Jazz um eine Referenz auf den amerikanischen Krimi White Jazz von James Ellroy, der neben zahlreichen weiteren Krimis zitiert wird. Ein Spiel im Spiel. Dagegen versteht man nicht, warum die Übersetzung ins Deutsche auf einem Markt, der plakative Titel schätzt (z.B. der Krimi-Markt), aus der einladenden Formulierung Arab Jazz die eher bedrohliche Übertragung Entfliehen kannst Du nie gemacht hat. Was sollte an Arabischer Jazz zu schwierig, zu unverständlich für ein deutsches Lesepublikum gewesen sein ? Ist doch sogar White Jazz mit White Jazz übersetzt worden.

“Entfliehen”, aus diesem Viertel, will keiner. Hat doch jeder seine Nische: Kupferstein in ihrem “kamesinroten Schlafanzug”, Hamelot widersteht zwar einer Thai-Massage, aber nicht dem Tsingtao, der Dienstchef Mercator beherrscht eine konzentriert kreative Methode des Zeichnens, die jeder respektiert. Ahmed schweigt und liest, bis wieder “Zeit für Worte” ist. Sie leben kohabitatif und mehr oder weniger zufrieden (solange kein Mord passiert) und meiden oder treffen sich, in ihren exakt definierten Schnittmengen, zum Beispiel eben bei James Ellroy, in dem Buchladen von Monsieur Paul oder beim Steak.